Leseprobe aus "Die Anderen - das fränkische Georgensgmünd und seine Juden vor und während des Dritten Reiches"
Litauen, November 1941
Als die 58jährige Rosa Pindrik gemeinsam mit vielen anderen Juden von Schergen aus dem Zug am Bahnhof von Kaunas getrieben wird, mag ihr Innerstes vor Entsetzen und Furcht zittern. „RIGA“, hatte es beim Einsteigen in den Personenzug DA 27, Gesellschaftssonderzug Da RSHA mit dem Laufweg München Ostpersonenbahnhof – Riga, geheißen. Sie kämen nach Riga. Begleitet wird sie von ihrem 21jährigen Sohn Jakob und ihrer 25jährigen Tochter Margot. Was auch kommen mag – sie wollen es gemeinsam erdulden und die schwere Last teilen. Die Kolonne an Menschen vor ihnen ist lang, 2934 Menschen, aus drei Zügen, alles „Umsiedler“ aus Berlin, aus Frankfurt am Main und aus München. In vielen Köpfen mag ähnliches vorgehen. Etliche sind einst wohlhabend gewesen, man hat ihnen jedoch fast alles weggenommen, man hat sie beleidigt, bespuckt, erniedrigt und ihnen jetzt einen Platz zugewiesen in der Welt, der sich von der Art ihres bisherigen Lebens nicht ärger unterscheiden könnte. Aber vielleicht kann man dort in Ruhe leben, sagt die Hoffnung. Vielleicht wird man dort nicht verfolgt. Vielleicht.
Der Weg vom Bahnhof zur alten Bastion ist weit, führt durch die Stadt und das geteilte Ghetto hindurch, die Straße entlang. Fünf, vielleicht sechs Kilometer müssen sie gehen, ihr Ziel ist die alte historische Stadtbefestigung. Dieser Teil erlangt zweifelhafte Berühmtheit: Es ist das Fort IX, wo sich seit dem 1. Weltkrieg ein Gefängnis befindet. Dort angekommen, verbringen die Umsiedler die Nacht in den Zellen, auch Rosa Pindrik und ihre Kinder. Am nächsten Tag sollen sie ins Ghetto gebracht werden. Aber was ist das für eine Zukunft? Rosa Pindrik blickt still auf ihre Kinder. Die beiden starren ins Nirgendwo. Aus den Zellen hört man das Schluchzen der Vielen und das Schweigen der Anderen. Rosa Pindrik denkt an ihre Kindheit zurück. Denkt an den kleinen Ort, wo die zwei Flüsse zusammenkommen, die Fränkische und die Schwäbische Rezat. Sie denkt an ihren Vater Max, an ihre Mutter Mathilde, an ihre Brüder Emanuel, Max, Abraham, Julius und Joseph. Sie denkt an die Unbeschwertheit eines heißen Sommers, sie denkt an den gestrengen Lehrer Birnmeyer, an den Bäcker am Marktplatz, wo es die besten Brötchen gab, die sie seitdem nie wieder gegessen hat. Sie denkt ans Schwimmen im Fluss, an die frisch gemähten Radwiesen, die sie, wenn sie die Augen schließt, noch riechen kann. Vielleicht hilft die Erinnerung. Ihre Kinder verfügen nicht über diese Erinnerung. Sie kennen den kleinen fränkischen Ort nur aus Erzählungen und von späteren Besuchen bei ihrem Onkel Joseph und Tante Emma. Die Heimat der Kinder ist München. Nun sollte Riga die neue Heimat werden, der Osten. Jetzt sind sie in Kowno, wo auch zwei Flüsse zusammentreffen: Memel und Neris. Was der nächste Tag wohl bringen wird? Am nächsten Morgen werden die Menschen aus den Zellen getrieben, hinunter in den Hof, Gruppen von rund 80 Personen zwingt man zum Frühsport in eiskalter Luft: Es ist Ende November. Der Atem dampft in der Kälte. Man versucht sich warmzuhalten, bis es losgeht, und doch schlottern die Menschen. Die Gruppen müssen im Dauerlauf, so gut sie das können, aus dem Fort laufen, auch die Pindriks. Der Mutter fällt es in ihrem Alter schwer. Sie wissen nicht, dass sie zu den Gruben getrieben werden, Gruben, von denen sie nichts ahnen, ausgehoben von russischen Kriegsgefangenen, und in dem Moment, da sie diese Gruben erreichen und ihnen die Erkenntnis mit furchtbarer Gewissheit von Angst gepeitscht durchs Gehirn schießt, eröffnen versteckte Schützen aus dem nahen Wald das Maschinengewehrfeuer. Niemand entgeht diesen Kugeln. Auch die Pindriks nicht. Über die Körper in den Gruben wirft man, achtlos darob, ob da noch Leben ist oder nicht, Erde. Das Leben der Jüdin Rosa Pindrik, geborene Großmeyer, endet in den Gruben bei Fort IX in Kowno. Begonnen hat dieses Leben in Georgensgmünd.(...)